über die farbobjekte
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Dr. Isa Bickmann

Farbtektonik – Zu den Objektbildern Wulf Winckelmanns


Am Anfang war ein Werkzeug: eine kleine Holzschachtel, die der Maler wie eine Art Stempel benutzte, um Farbe auf die Leinwand zu tupfen. Nach dem Gebrauch wurde sie gereinigt, und die verbliebenen Farbreste mit einem Spachtel geglättet. So entstand durch langjährigen Gebrauch ein das Gedächtnis vieler Bilder in sich bergendes Objekt, dessen eigenwillige Schönheit aus tausend und einer Farbschicht den Künstler derart faszinierte, dass es ihm kunstwert erschien und für ein paar Tage an die Wand zur Hängung kam.
Anfang 2007 begann Wulf Winckelmann das durch Zufall entstandene Objekt gezielt nachzubauen, denn eine Wiederholung des langwierigen Entstehungsprozesses war zweifellos nicht möglich. Basis ist wiederum eine Kiste aus Holz, auf die Polystyrol- oder Polyurethanschäume aufgebracht werden, die er bildhauerisch bearbeitet, um sie dann mit Epoxydharz zu bedecken. Nach der Härtung kommen in vielen Schichten Farben, Pigmente, Lasuren und weitere Materialien hinzu. So entsteht eine aus verschiedenen Werkstoffen aufgebaute Plastik.


Die dritte Dimension

Damit ist der Schritt vom flachen Bild in die dritte Dimension getan, denn allein die Malerei vermag den Raum mittels der Perspektive darzustellen, kaum aber kann dabei die Dreidimensionalität auch räumlich erfahrbar gemacht werden. Mit dem Wandobjekt wird dem Betrachter die Möglichkeit gegeben, das Werk von verschiedenen Positionen im Raum kennenzulernen. Dazu gehört auch, dass die im Tagesverlauf wechselnde Beleuchtung eines Standortes dem Objekt eine zusätzliche Rezeptionsebene bereitet. Die Farbe des Lichts und der Schattenwechsel verändern das Objekt.
Damit einher geht die gänzliche Loslösung von einer inhaltlichen Bestimmung. Während Wulf Winckelmann in seinen früheren Landschaftsbildern gegenständliche Assoziationen zuließ, konnte er nun zur völligen Abstraktion kommen. Zwar hatten die mit Acrylfarbe und Pigmenten ausgeführten Bilder das reale Vorbild durchaus hinter sich gelassen und waren – auch in der Weiterentwicklung durch Fotografie sowie deren Bearbeitung am Computer – zunehmend abstrahierter, doch erinnerten die farblich forcierte Stimmung der Bilder und ihre Horizontlinie an Landschaften. Winckelmann suchte die Darstellung „archetypischer Landschaften“. Und da waren auch die Bilder, die auf Venedig rekurrieren und wie Ausschnitte aus Häuserwänden und Mauern wirken, welche abblättern und frühere Farbschichten herzeigen. Hier ist das sichtbare Motiv – Venedigs alte Mauern oder die Horizontlinie einer Landschaft – noch gegenständlich. In den neuen Farbobjekten dagegen wird das „Bild“ selbst zu einem Gegenstand, der an der Wand hängt und nur noch über Form, Farbe und Oberflächenstruktur Auskunft gibt.


Präsenz

Dass Wulf Winckelmann hier auch in einer kunsthistorischen Tradition steht, ist unverkennbar. Die von Robert Morris (*1931) und Carl Andre (*1935) eingeführten Schlagworte der Minimal Art, „presence“ und „place“, Materialpräsenz und Verortung im Raum, lassen sich auf Winckelmanns Kunst zweifellos anwenden. Darüber hinaus ist das Serielle, das die Minimal Art auszeichnet, also die Wiederholung eines Objektes, das wie bei Donald Judd (1928-1994) mit dem benachbarten nicht unbedingt identisch sein muss, auch bei Winckelmann zu finden. Und doch gibt es einen deutlichen Unterschied zu den Vorläufern in den sechziger Jahren: Obwohl Winckelmann stark konzeptuell denkt, tritt das künstlerische Moment deutlich vor das handwerkliche. Viele Protagonisten der Minimal Art und auch deren heutige Nachfolger ließen und lassen „bauen“, das heißt, sie geben ihr Konzept in die Hände ihrer Assistenten oder eines Handwerkers. Winckelmann aber lässt Intuition im Entstehungsprozess zu, wenn er sagt, dass es sein Bestreben sei, der Farbe ein „Eigenleben“ zu verschaffen.
Das Minimalistische wird in heutigen Zeiten als Luxus empfunden, wo wir alle nach Reduktion streben und in einer bunten, bildgewaltigen Welt damit liebäugeln, unser Leben unter dem Motto „Simplify your Life!“ zu vereinfachen. Genau im Hinblick auf diesen Aspekt scheint der Unterschied zum historischen Minimalismus am größten zu sein. Wulf Winckelmann reduziert zwar auf eine blockartige Präsentation von Farbe, doch wenn man näher an die Bilder herantritt, so teilt sich eine Opulenz mit, die eher als romantisch, das sinnlich-spirituelle Moment betreffend, oder gar als barock bezeichnet werden könnte, wenn man die Kraft und Tiefe des Farbauftrags in Augenschein nimmt.


Form

Hinsichtlich der Form erinnert man sich auch an die Werke Gotthard Graubners (*1930), der die Farbe zum Bildgegenstand erklärte und kissenartige Werke schuf, monochrome Bilder mit feinen Farbnuancen. Die formalen Ähnlichkeiten sind doch eher unbewusst zustande gekommen, die Üppigkeit von Winckelmanns massiven Formen steht gegen die Weichheit Graubners, der mit abgeflachten Ecken eine eventuelle Schwere eliminiert, während Wickelmann durch die steinartig, unregelmäßig ausgekerbten Kanten seinen Objekte eine physisch wahrnehmbare Schwere zugesteht und sie damit ins Bildhauerische rückt.


Expression

Winckelmann nennt auch die Künstler der ZERO-Bewegung und den abstrakten Expressionismus als Vorbilder, in den sechziger Jahren allesamt Parallelerscheinungen zum Minimalismus. Das Wichtige daran ist: Vor allem im Verweis auf deren Expressivität eröffnet sich ein Zugang zu seinen Farbobjekten. Der Auftrag der Farbschichten lässt ein Durchscheinen der jeweils unteren Schicht zu. Der Spachtel hat Spuren hinterlassen, die nie gleichmäßig sind, sondern offenbaren, dass Spontaneität ein wichtiger Aspekt der Bildwerdung bleibt. Keine Rille gleicht der anderen. Strukturen sind manchmal kreuz und quer hineingeritzt, parallele Linien sind nie mit dem Lineal gezogen. Manchmal scheint es, als stoße eine ölhaltige Grundierung einen wasserhaltigen Farbauftrag ab. Dabei entstehen unregelmäßige Farbflächen wie unter der Einwirkung der Natur. Dieses ist vom Künstler nur bedingt zu kontrollieren. So hat der Zufall einen gewissen Anteil und verweist auf den Entstehungsprozess.


Das Prozessuale

Glänzende, matte, lasierend aufgetragene Farbschichten wechseln sich ab. Farbe bricht auf wie auf einer alten Wand. Wabenstrukturen in leuchtendem Gelb zeigen die darunterliegende Farbschicht, ein Rot-Orange. Ein schleierartiges Weiß legt sich auf die Malfläche, durch sie scheinen rötliche und gelbe Schichten durch, als sei die gelbe Farbe einer Wand teilweise abgeplatzt und zeige die frühere Bemalung.
Das Gesamtwerk Winckelmanns, auch die früheren Landschaften, verdeutlicht, dass der Entstehungsprozess sichtbar werden soll. Die Spur der Künstlerhand lässt die Werkgenese, zumindest ihren Farbanteil, erahnen. Deutlich hervorkragende Farbwülste zeugen von der Dicke der Schichten. Dabei mag man an die „Grattage“ denken, so wie sie die Surrealisten, das Unbewusste in die Bildkunst übertragend, und hier besonders Max Ernst, anwendeten. Aber Winckelmann führt nicht im Sinne einer Écriture automatique aus, sondern setzt bewusst rhythmische Strukturen.


Licht und Schatten

Winckelmanns Hinweis auf die ZERO-Bewegung ist vor allem interessant, wenn man jene rhythmischen Strukturen, die viele seiner Farbobjekte auszeichnen, als bildimmanente Tektonik ansieht. Im Kontext der ZERO-Bewegung wäre hier zu denken an den Niederländer Jan Schoonhoven, Mitbegründer der Gruppe Nul, dessen serielle Reliefformen durch weiße Farbe dem Licht die alleinige Bildaussage zugestehen.
Das Licht ist auch ein Grund, die dritte Dimension zu erobern. Die Farbobjekte Winckelmanns werfen Schatten, wenn sie an der Wand hängen. Damit rückt die Farbfläche stärker in den Raum. Wenn man direkt vor dem Objekt steht, scheint es zu schweben. Geht man daran vorbei, gibt der Schatten deutlichen Raum. Die Stärke der Farbobjekte liegt zumeist bei 14 cm, was der steinartigen Form zusätzlich Volumen und Gewicht verleiht. Dem ursprünglichen Werkzeug gemäß hat der Künstler die Oberfläche der Objekte in eine leicht konvexe Form gebracht, was den Eindruck von Schwere verstärkt.


Autonome Farbe

Von Weitem als Farbfeld wahrnehmbar, wird bei näherer Betrachtung deutlich, dass die Farbe schichtweise aufgetragen wurde. Das Prozessuale der Entstehung erschließt sich dem Betrachter, da tiefer liegende Farben sichtbar werden. Winckelmann variiert die Oberflächenstrukturen: Manchmal wurde in die obere Farbschicht mit einem Werkzeug ein Muster hineingedrückt, mal bringen dünne, durchscheinende Lasuren das Bild zum Abschluss, mal erscheint die oberste Farbschicht in einem Craquelée-Netz und wirkt wie abplatzende Farbe. So steht in Winckelmanns neuer Werkserie die Materialität der Farbe im Mittelpunkt. Durch Streichen, Hineindrücken, Auftupfen erreicht der Künstler Pastosität und Struktur. Dieser direkte, ja, sinnliche Umgang mit der Farbe vermittelt sich dem Betrachter auch haptisch. Wulf Winckelmanns Farbobjekte erscheinen wie ästhetische Reflektionen über die Farbe, die sich gegenüber der gegenstandlosen Form behauptet und zur autonomen künstlerischen Aussage wird.